Die USA nehmen steigende Covid-19-Zahlen vermehrt in Kauf Im Süden und Westen der Vereinigten Staaten werden so viele mit dem Coronavirus Infizierte ins Spital eingewiesen wie noch nie. Trotzdem schwindet die Bereitschaft zu Einschränkungen bei der Seuchenbekämpfung. Peter Winkler, Washington 14.06.2020, 19.09 Uhr Drucken Teilen Mit mehr als zwei Millionen bestätigten Infektionen und über 115?000 Todesopfern führen die USA die globalen Statistiken immer noch mit grossem Vorsprung an. Das Einzige, was man mit Sicherheit sagen kann: Überraschend ist nichts an der Entwicklung. Man brauchte nicht einmal die Bilder vom Memorial-Day-Wochenende mit überfüllten Strand- und Pool-Bars Ende Mai anzuschauen, auch wenn sie zweifellos auf das Kommende vorbereiteten. Sie zeigten, wie entschlossen Teile der amerikanischen Bevölkerung die bedrückende Realität der Covid-19-Seuche hinter sich lassen wollten. Die Folgen davon zeigen sich mittlerweile: In mindestens 20 der 50 Gliedstaaten sind die Zahlen der bestätigten Neuinfektionen am Steigen. In den USA sind mittlerweile über 115 000 Menschen mit dem Virus gestorben Bestätigte Coronavirus-Fälle in den USA, nach Status der Patienten (in Millionen) Tote gegenwärtig Erkrankte Genesene März 2020Juni 202000,511,522,5 Quelle: Johns-Hopkins-Universität NZZ / jum. Unrühmliche Spitzenposition Mit mehr als zwei Millionen bestätigten Infektionen und über 115?000 Todesopfern führen die USA die globalen Statistiken immer noch mit grossem Vorsprung an. Einen einheitlichen Trend gibt es in diesem weiten Land weiterhin nicht. Während frühere Krisenherde an der Ostküste wie New York dank langem Lockdown und einer vorsichtigen Öffnung eine anhaltend sinkende Tendenz vorweisen können, liegen die Gegenden, die jetzt am meisten Anlass zur Sorge geben, vor allem im südlichen «Sun Belt» und im Westen. Alabama, Nevada, Oklahoma, Oregon, South Carolina und Wyoming registrierten in der vergangenen Woche eine Zunahme von mehr als 50 Prozent an Infizierten gegenüber der Vorwoche. Dass es sich bei diesen Zahlen nur um das Ergebnis von mehr Tests handeln könnte, ist unwahrscheinlich, da auch die Quote der positiven Tests anstieg. Zudem verzeichneten mehrere Gliedstaaten – unter ihnen Texas, Arizona und North Carolina – rekordhohe Zahlen an Hospitalisierungen. Die Lockerungen der Einschränkungen sind den Kriterien, welche die Gesundheitsexperten einst als Bedingungen für ein Hochfahren des öffentlichen Lebens formulierten hatten, in den meisten Fällen weit voraus. Die Ungeduld war vielerorts zu gross geworden, und die Disziplin zum Einhalten der Schutzmassnahmen schwand zusehends. So übten sich die amerikanischen Behörden vielerorts im Nachvollzug von Trends, welche die Bevölkerung längst gesetzt hatte. Wie die amerikanischen Gliedstaaten mit dem Coronavirus umgehen Wie die amerikanischen Gliedstaaten mit dem Coronavirus umgehen Stand: 11. 6. 2020 Quelle: Briefings der Gouverneure der Gliedstaaten, Gesundheitsämter der Gliedstaaten NZZ / cke. jum. Wie stark die Infektionskurven wegen der wochenlangen Demonstrationen gegen Polizeigewalt und Rassismus nach oben schnellen werden, ist noch unklar. Die von der Pandemie derzeit am härtesten getroffenen Regionen gehören, mit Ausnahme Südkaliforniens, nicht zu den Orten mit den grössten Menschenaufläufen. Ein Ende der Proteste ist aber nicht abzusehen, im Gegenteil. In Atlanta kam es zu Demonstrationen, nachdem ein Afroamerikaner bei einer Verkehrskontrolle in der Nacht auf Samstag wegen vermuteten Alkohol- oder Drogeneinflusses unter noch unklaren Umständen erschossen worden war. Die langjährige Polizeichefin trat am Wochenende zurück. Mit einem feinen Raster wird das 330 Millionen Einwohner zählende Land jetzt nach verdächtigen schwarzen Todesopfern abgesucht. Im stetigen Lärm von Behauptungen und Gegenbehauptungen ist ein klares Bild schlichtweg ein Ding der Unmöglichkeit. Folglich sieht man, was man sehen will. Sicher aber ist, dass die Demonstrationen die Disziplin zur Beachtung der Corona-Schutzmassnahmen weiter untergraben haben. Dafür sind vor allem jene – zumeist linken – Politiker und Aktivisten verantwortlich, die Massen von schreienden Menschen im diffusen «Kampf gegen Rassismus» plötzlich in Kauf nahmen, im Dienste eines ethisch übergeordneten Ziels, während sie Proteste aus Sorge um die wirtschaftliche Zukunft der gegenwärtigen Bevölkerung und ihrer Kinder heftig kritisiert hatten. Das Virus kümmert sich nicht darum, aus welchem Grund Menschen entscheiden, plötzlich höhere Risiken einzugehen. Es wird besonders verwundbare Bevölkerungsgruppen – und zu ihnen gehören ausgerechnet die dunkelhäutigen Menschen – nicht schonen, weil das Motiv für die Zusammenrottung «ehrenwert» war. In gewisser Weise haben sich linke und rechte Politiker in den Vereinigten Staaten angesichts von Covid-19 nun im Wunschdenken gefunden, dass es irgendwie schon gutgehen werde. Das Weisse Haus hat schon lange aufgehört, auf der öffentlichen Bühne der Seuchenbekämpfung eine Hauptrolle zu spielen. Präsident Donald Trump ist wild entschlossen, am nächsten Wochenende in Tulsa (Oklahoma) eine Wahlveranstaltung mit einem Massenpublikum von Tausenden von Menschen durchzuführen. Teilnehmer müssen vorsorglich einer Verzichtserklärung zustimmen, dass sie im Fall einer Ansteckung keine Rechtsmittel ergreifen. Veränderte Diskussion Galionsfiguren der Seuchenbekämpfung wie Anthony Fauci, der Top-Experte für Infektionskrankheiten an den National Institutes of Health (NIH), werden zwar noch interviewt. Doch ihre Warnungen und Ermahnungen haben es schwer, noch durchzudringen im lauten und stetigen Rauschen der traditionellen und sozialen Netzwerke, die zu einer «Normalität» zurückkehren wollen. Eine solche, meinte Fauci gegenüber einer britischen Zeitung, werde sich vielleicht in einem Jahr abzeichnen. Die Diskussion konzentriert sich längst nicht mehr darauf, die Verbreitung des Virus aufzuhalten. Es geht nun viel stärker um die Frage, wie die besonders Verwundbaren in einer Gesellschaft geschützt werden können, die – bewusst oder aus Ignoranz – die Tatsache zu akzeptieren scheint, dass das Virus auf absehbare Zeit ein Teil des Alltags sein wird, mit an- und abschwellenden Infektionswellen.